Michael Schultz Daily News Nr. 989

Michael Schultz Daily News Nr. 989

Berlin, den 30. Juli 2015

nach den Gedanken über die 'Sommerflaute', und dem Sinnesruf zur  'Sommerfrische', beenden wir heute mit einer Rückschau auf Maxim Gorkis 'Sommergäste' die Trilogie des Sommers.

Versetzen wir uns zurück in die allseits stürmische Zeit der frühen siebziger Jahre. Im damals von Studenten eroberten Berliner Arbeiterbezirk Kreuzberg, etablierte sich die  'Schaubühne am Halleschen Tor'. Innerhalb von nur wenigen Jahren war es dem künstlerischen Leiter Peter Stein mit seinen eigenwilligen Inszenierungen gelungen, die Kreuzberger Experimentierbühne zum besten Theater bei uns im Land zu etablieren. Ein Musentempel für die dem Fortschritt verschrienen Aufgeklärten.

Die 'Schaubühne' wurde als Mitbestimmungstheater betrieben und galt und gilt als wichtigste institutionelle und künstlerische Konsequenz der Politisierung der 68er Bewegung. Mit den Aufführungen von Henrik Ibsens Peer Gynt (1971), Kleists Prinz von Homburg (1972) und den Ende 1974 inszenierten 'Sommergästen' von Maxim Gorki, schrieb das damals junge Ensemble recht schnell Theatergeschichte. Untergekommen war die Theatergruppe in einem Mehrzwecksaal der Arbeiterwohlfahrt.

Zum Ensemble gehörten die durch ihre Arbeit an der 'Schaubühne' zu Ruhm und Anerkennung gereiften 'Großen' des deutschen Theaters: Bruno Ganz, Otto Sander, Edith Clever, Jutta Lampe, Ilse Ritter, Wolf Redl, Gerd Wameling und Michael König. Der junge Botho Strauß erhielt mit seinem dramaturgischen Eigensinn allerhöchstes Lob. Mit den von ihm dramaturgisch mit aufbereiteten 'Sommergästen' setzte er Maßstäbe für das moderne Theater.

Das Stück entlarvt ironisch die intellektuelle Schicht im vorrevolutionären Russland, die den Kontakt zum Volk verloren hat. Dreizehn Personen, ein Spätsommer, eine Datsche im Birkenwald - Russland um 1900. Menschen, denen fremd geworden ist, was sie tun, die auf Unbestimmtes warten; Menschen im Zeitloch der Geschichte.

'Wir sind die Sommergäste in unserem Land. Wir gehören nirgendwo hin. Wir tun nichts. Wir reden nur schrecklich viel'. Durch die zerfallenden Beziehungen hindurch, nimmt der Wunsch nach Veränderung Gestalt an. Leise, aber unüberhörbar zieht ein großer Sturm auf: es naht die russische Revolution...

Die Inszenierung von Peter Stein wurde zu einem der größten Theatererfolge in Deutschland und darüber hinaus. 'So sollte Theater immer sein. So sollten Schauspieler immer spielen' jubelte 'Le Monde'; der 'Daily Telegraph' titelte schlicht mit: 'Director of Genius'. Auch bei uns im Land überschlug sich die Presse. Die sonst der deutschen Theaterlandschaft recht skeptisch gegenüberstehenden Kritiker waren sich des Lobes einig.

Rolf Michaelis (1933-2013), ein allseits anerkannter Literaturspezialist war seinerzeit als Kulturredakteur bei der 'Zeit' beschäftigt. Im Archiv der Wochenzeitung fanden wir unter der Überschrift 'Pessimistische Komödie' seine auf den 3. Januar 1975 datierte Kritik. Wegen seinem umfassenden literarischen Einblick in die Vorgeschichte zur russischen Revolution; seiner womöglich durch  Liebesentzug geprägten (vorsichtigen) Abwendung von allem Linken; aber auch als Zeitdokument des Auf- und Umbruchs im noch zaristischen Russland und der durch die RAF verunsicherten Bundesrepublik, ein nachlesenswertes Geschichtswerk.

Im Nachgang an den heutigen Newsletter haben wir die Kritik in voller Länge unten angehängt. Damit beenden wir unsere (unbeabsichtigte) Trilogie des Sommers. Danken der 'Zeit', und hoffen und wünschen auf einen weiterhin auf- und anregenden Sommer.

 

Pessimistische Komödie

von Rolf Michaelis/ 3. Januar 1975

Das Ewigweibliche zieht uns hinan, auf der Bühne auch zur Revolution. „Die Mutter“ heißt das bekannteste Agitationsstück für revolutionäres Verhalten, von Brecht (1930/32), nach Maxim Gorkis gleichnamigem Roman (1907). Eine Frau auch ist es, die absichtsvoll namenlose, bewußt entgegen dem natürlichen Geschlecht „Der Kommissar“ genannte Kommunistin, die in dem berühmtesten Aufstandsspektakel nach der Oktoberrevolution, in Wischnewskis „Optimistischer Tragödie“ (1932), meuternde Matrosen mit dem Revolver auf den rechten linken Weg zurückführt. Beide Schauspiele hat die Schaubühne am Halleschen Ufer in Berlin gespielt. Beidemal saß am Regiepult der führende Kopf dieser zur Zeit besten (und erfolgreichsten) Truppe: Peter Stein.

Jetzt steht sein Name wieder auf dem Programm, als Regisseur und Bearbeiter des 1904 in St. Petersburg zum ersten Mal gespielten, dritten Bühnenstückes von Gorki: „Sommergäste“. Und wieder. ist es eine Frau, die siebenunddreißigjährige Ärztin Marja, die in eine verspießerte Kleinbürgerwelt die Fackel des Aufruhrs schleudert mit den Worten, die Gorki den „Schlüssel“ zu einem Stück nennt, mit dem er sich in mehreren Fassungen abgequält hat, und das (auch deshalb) selten gespielt wird: „Wir müssen ganz andere Menschen werden, jawohl. Wer sind wir? Kinder von Waschfrauen, Köchinnen, Arbeitern. Und was tun wir? Wir sterben vor Langeweile, vor Überdruß ... Das, darf doch nicht sein ... Sie haben uns vorausgeschickt, damit wir für sie den Weg zu einem besseren Leben finden. Doch wir haben uns von ihnen entfernt, wir haben sie verloren und uns in eine Einsamkeit verirrt, in der wir nur noch uns selbst beobachten, voller Nervosität und innerer Zerrissenheit... Wir haben kein Recht, uns zu beklagen ...“

Mütterchen Rußland als Hebamme der Weltrevolution? Die Bildvermengung von Freiheitsmuse mit Mutter/Geliebter durch zumeist männliche Theoretiker oder Schwärmer der Revolution (Delacroix’ barfüßige, barbusige Barrikadenstürmerin, Trikolore in der Rechten, bajonettbewehrte Flinte in der Linken) spiegelt sich noch in einer Fußnote des sonst durch philologische Nüchternheit überzeugenden Programmheftes. Die Ärztin Marja findet Gehör für ihre neue Botschaft nur bei Männern vor oder nach dem aktiven Berufsleben: bei dem alten Kapitalisten Doppelpunkt, der seine Fabrik an die „viel besser, viel billiger produzierenden Deutschen mit ihren modernen Anlagen“ verkauft hat; bei dem jungen Ungelernten Wlas, der sich ein paar Kopeken verdient als Schreiber im Anwaltsbüro seines Schwagers und Lebensekel hinter Clownerien verbirgt. Die vom Leben, der Liebe enttäuschten jungen Frauen aber lauschen Marjas Worten mit wachsender Begeisterung, vor allem die kinderlose, an der Leere ihres Daseins verzweifelnde Frau des Rechtsanwaltes, Warwara, von der es in einer Fußnote des Programmheftes heißt: „Von Marja, die so ungewohnt redet, fühlt sie sich angezogen, auf dem Weg einer sinnlichen Zuneigung, der zugleich einer der Aufklärung ist. Und darin hat das Stück etwas Verheißendes: Sich verlieben und zu politischer Vernunft erwachen, das müßte ein und derselbe Vorgang sein.“

Hier liegt der „Schlüssel“ zu Steins Inszenierung. Dieser Regisseur, der immer schon überrascht hat durch die ausdrucksstarke Sinnlichkeit im körperlichen Gestus seiner Darsteller, findet vor allem für Edith Clever als Warwara ungewöhnlich kräftige, dabei (dem scheuen Charakter dieser Frau entsprechende) zarte, Gebärden der Körpersprache, besonders schön im langen, stummen Finale des zweiten Aktes. Die Ärztin Marja (Jutta Lampe), die den Tag über sommergastlich nachlässig gekleidet war, kommt am Abend in die Datscha des befreundeten Anwalt tes. Nicht um mit der Hausherrin Tee zu trinken, hat die sich „alt“ fühlende Marja einen die Fältchen beschattenden Hut aufgesetzt, einen schlanker machenden Schal um den Oberkörper gewunden, sondern um den für die damalige Zeit skandalöse zwölf Jahre jüngeren Bruder Warwaras vor dem Schlafengehen noch einmal zu sehen. Sie hört kaum zu, während die Hausherrin spricht, ist mit Aug’ und Ohr schon im Nebenzimmer, wo Wlas über Kopierarbeiten sitzt. Dann folgt eine der stummen Szenen von schmerzender Schönheit, wie sie zur Zeit nur Peter Stein erfinden kann. Marja geht zu Wlas, schaut dem Geliebten bei seiner Sklavenarbeit zu, beugt sich dabei leicht über den Schreibenden, der plötzlich auffährt, sie lang anschaut, dann den Kopf der – verwirrten Frau zu sich herabzieht in einen Kuß, der so lang währt, daß die Stille hörbar und Warwara aufmerksam wird: Vom Nebenzimmer aus schaut sie dem Glück ihrer Freunde zu. Setzt Marja sich dann an den Arbeitstisch ihres Freundes, macht Warwara sich, vom anderen Ende der Bühne, auf den Weg, kauert sich neben Marja und schmiegt mit einer scheu bittenden Geste der Teilnahme ihren Kopf an den Rücken der glücklicheren älteren Frau. Über diesen, in seiner Verschwiegenheit utopischen Augenblick körperlicher, seelischer Harmonie nach lärmenden Streitszenen läßt der Regisseur den Vorhang fallen.

Die Aufführung befreit sich immer wieder in Szenen solcher Intensität des stummen Spiels, gerade wenn die von ihren Freundinnen als kalt und herrisch gescholtene Warwara die körperliche Nähe anderer Frauen sucht, etwa in den Umarmungen des Picknick-Bildes. Aber leider hat es der Regisseur mit einem ziemlich geschwätzigen Stück zu tun, dessen Redestrom auch durch straffende Bearbeitung kaum einzudämmen ist. Peter Stein und sein Dramaturg Botho Strauß haben sich, nach einer Rohübersetzung von Helene Immendörfer, ihre eigene Textfassung geschrieben. Sie sind dabei nicht zimperlich vorgegangen. Die vier Akte Gorkis, deren Einschnitte beibehalten und durch fallenden Vorhang markiert werden, sind aufgelöst in 78 zum Teil nur aus wenigen Sätzen bestehende Szenen. Gorkis Personal von 26 Spielern ist konzentriert auf sechzehn. Szenen sind umgestellt, neu dazu erfunden, oft einschneidend verändert. „Sommergäste nach Gorki“ heißt der Dreieinhalbstundenabend der Schaubühne. Ein großes Programmheft, das seine fünf Mark wert ist, bringt den Text, gibt mit wissenschaftlicher Gründlichkeit Rechenschaft über die Veränderungen am Original und enthält eine Fülle von Informationen über den Dramatiker und seine Zeit.

So einleuchtend und gelungen die Bearbeitung ist, sie bringt einen glättenden Zug in das wuchernde, böse Stück. Die wilde Formlosigkeit dieses frühen Dramas des sechsunddreißigjährigen Russen – seine „Unbeherrschtheit“, wie Tschechow tadelte, „kein ‚Stück‘, sondern schlimmer, schrecklicher: das Leben selbst“, wie der Kritiker E. W. Tarlé nach der Uraufführung lobte – ist Stärke und Schwäche zugleich, macht auf jeden Fall den Reiz dieser Abrechnung eines jungen zornigen Mannes mit der russischen Spießerwelt aus. Die „offene“ Dramaturgie Gorkis, der mit Andeutungen und „angeschnittenen Szenen“ die Phantasie des Zuschauers zum Mitspielen lockt, wird in die konventionellere, „geschlossene“ Form gebracht – wie es eine Anmerkung der Bearbeiter formuliert: „Außerhalb des überblickbaren Bühnengebietes gibt es keine oder kaum Handlung.“

Dabei tilgt die neue Fassung nicht die eigentümlich russische Wehleidigkeit, das geschwätzig tränenselige Selbstmitleid fast aller Gestalten, wohl aber eine der szenischen Kühnheiten Gorkis, der etwa die lockere Reihung der Szenen im zweiten Akt noch weiter aufbricht und in hat geschnittenen Einblendungen eine Reihe fremder Personen in Kürzestauftritten über die Bühne schickt, Sommergäste aus Nachbar-Datschen, die zur Probe eines Laienspiels eilen. Solch komische Kurzszenen ausblendend, erzählt die Schaubühnen-Fassung, mit sanft didaktischem Unterton die Geschichte einer Emanzipation. Zeigte die Aufführung, mit der die Schaubühnenmannschaft um Peter Stein ihre Arbeit begann, Brecht/Gorkis „Mutter“, wie eine Arbeiterfrau politisch aktiv wird, so wird jetzt demonstriert, wie einige Menschen des aus dem Proletariat aufgestiegenen intellektuellen Kleinbürgertums ihr schales Leben als Müßiggänger – als „Sommergäste im eigenen Land“ – aufgeben, um als Lehrer, Ärzte, Sozialarbeiter für das Volk zu wirken. Diesen roten Faden einer Erziehung zu sozialer Verantwortung präpariert die Aufführung heraus. Die Ärztin Marja führt als Heilsbotin einige Menschen, vornehmlich Frauen, aus dem Sumpf verspießerten Provinzlebens hinaus.