Michael Schultz Daily News Nr. 982

Michael Schultz Daily News Nr. 982

Faro, den 21. Juli 2015

es war der 31. Mai 2009, als am späten Abend in Rio de Janeiro der Airbus A 330 mit der Flugnummer AF 447 sich langsam in den Himmel schob. Mit an Bord waren 216 Passagiere, 9 Flugbegleiter und 3 Piloten. Es war eine hochqualifizierte Besatzung, die in einem tadellosen Großraumjet für Air France, eine der angesehensten Airlines der Welt, auf die ganz Frankreich stolz ist, unterwegs war. Niemand von ihnen konnte ahnen, dass mit dem Abheben der Maschine auch ihr Schicksal besiegelt war.

Selbst heute - nach Bergung der Flugschreiber vom Grund des Atlantiks, und eingehender Untersuchungen französischer Gerichte - bleibt es schier unvorstellbar, dass die Maschine abgestürzt ist. 'Eine minimale Fehlfunktion leitete die Katastrophe ein, ein momentaner Ausfall des Fluggeschwindigkeitsmessers - ein Informationsproblem von der Dauer eines Wimpernschlages während eines beschleunigten horizontalen Geradeausflugs. Die Piloten waren überfordert; es scheint absurd'. (Lettre International)

Anfänglich noch wurde bei einer schnellen Ursachenforschung die Inkompetenz 'gleich dreier Piloten' strikt verworfen. Auch andere Antworten müssen spekulativer Natur bleiben, weil sich keiner der Piloten dazu mehr äußern kann, warum sie kurz vor ihrem Tod in eine kopflose Hektik verfallen sind.

Drei Tage vor dem Unglück war die Crew in Rio eingetroffen; eingecheckt wurde im Sofitel am Strand von Copacabana. Rio de Janeiro ist bei der Air France ein beliebter Zwischenstopp. Regelmäßig werden Crewmitglieder von Familienangehörigen oder guten Freunden begleitet. Der Kapitän war mit einer dienstfreien Flugbegleiterin unterwegs, der dienstjüngere der Copiloten hatte seine Frau mitgebracht.

Planmäßig um 19.29 Uhr startete Flug 447 mit insgesamt 228 Menschen an Bord. 'Der Airbus ist eine lammfromme zweistrahlige Düsenmaschine mit hochautomatisiertem Cockpit und computergesteuerter Fl-by-Wire-Steuerung, die nicht nur für einen außergewöhnlich stabilen Flug sorgt, sondern auch dem Extremfall einer Überschreitung der aerodynamischen und strukturellen Belastungsgrenzen durch die Piloten von sich aus durchgreift'. (Lettre) Bis zu diesem Unglück war seit Inbetriebnahme noch kein Flugzeug dieses Typs vom Himmel gefallen.

Der Kapitän saß im linken Sitz, und einer seiner Copiloten hatte rechts Platz genommen. So wie es die Hierarchie vorschreibt. Obwohl der Kapitän als erster Flugzeugführer für den gesamten Flug verantwortlich war, diente er auf diesem Flug lediglich als Pilot not Flying (PNF), der für Funkverkehr und Checklisten verantwortlich war. Er sollte nur einspringen, wenn tatsächlich Not am Mann war. Der junge Copilot zeichnete für den Start und die Landung verantwortlich.

Rund vier Minuten nach dem Abheben wurde der Autopilot angestellt. Ruhig und ohne die geringsten Komplikationen schob sich die Maschine in die Nacht. Die vorgeschriebene Flughöhe betrug 35.000 Fuß; an witterungsbedingten Komplikationen hatte man 'lediglich mit einer Reihe von Gewitterzellen beim Durchfliegen der Intertropischen Konvergenzzone' zu rechnen, die den Atlantik unmittelbar nördlich des Äquators umspannt.

Nach 31 Minuten Flugzeit war die Reiseflughöhe erreicht. Der Autopilot hatte den Airbus in den Horizontalflug gebracht; die automatische Schubsteuerung setzte den Schub zur Erreichung der vorprogrammierten Geschwindigkeit von rund 840 Kilometern pro Stunde ein. Vom Flugdatenschreiber werden während des gesamten Flugs mehr als eintausend Parameter aufgezeichnet. Der Stimmenrekorder im Cockpit dagegen wird  auf Grund der Bedenken seitens der Piloten, in Bezug auf ihre Privatsphäre, alle zwei Stunden gelöscht. Die Aufzeichnung der Cockpit-Konversationen beginnt rund zwei Stunden vor dem Unglück:

Zwischen dem Copiloten und dem Kapitän wurde nicht sonderlich viel gesprochen, weil der Cockpit-Chef via Kopfhörer Opernarien gehört hat. Erst als eine Wetterinformation reinkam, aus der hervorging, dass sich vor ihnen eine Gewitterfront entwickelt, wurde etwas mehr kommuniziert. Die Bemerkung des Kapitäns: 'Keine Spur von Stress mit Gewittern. Was?' blieb vom Copiloten unbeantwortet.

Gegen 22.30 Uhr befand sich das Flugzeug, vom Radar der Flugsicherung nicht mehr zu orten, bereits ein gutes Stück draußen über dem Atlantik. Der Kapitän meldete sich bei der Flugsicherung, gab eine Standortmeldung durch, und wurde vom Controller gebeten, die 35.000 Fuß Flughöhe einzuhalten. Der Copilot wäre gerne auf 36.000 Fuß gestiegen, weil er der Ansicht war, dass in dieser Höhe die Wolkengrenze überschritten sei, und es deshalb zu einem ruhigeren Flug kommen würde. Auf diese mehrmals vorgetragene Bitte hatte der Kapitän nicht wirklich geantwortet.

Mit dem bordeigenen Radar können die Piloten die schweren Gewitter umfliegen, und es gab auch wirklich keinen Grund zur Annahme, dass eintausend Fuß höher anderes Wetter herrschte. Zudem war die maximale Flughöhe auf 37.000 Fuß angelegt: alles was darüber liegt, wird gefährlich. Die Maschine wäre dort mit weitaus geringerer Geschwindigkeit unterwegs und damit gefährlich am Strömungsabriss. 'Warum der Copilot trotzdem aufsteigen wollte, bleibt eines der ungeklärten Rätsel von Air France 447'. (Lettre)

Obwohl die Unwetter vor ihnen lagen und er einen hochgradig nervösen Copiloten an seiner Seite hatte, entschloss sich der Pilot, sich ein wenig aufs Ohr zu hauen. Folgenschwer für die kommenden Minuten. Ins Cockpit kam nun ein ebenso junger weiterer Copilot, der die Stelle des Chefs einnahm. Die Turbulenzen nahen etwas zu, es erging ein Hinweis an die Passagiere sich anzuschnallen. Der Copilot wiederholte seine Bitte an den neuen Kollegen, auf 36.000 hochgehen zu können; er fluchte weil ihm das nicht erlaubt wurde.

Sie umflogen eine Schlechtwetterzone und flogen in die nächste hinein. Nichts ungewöhnliches, auch nicht das leichte Prasseln der Eiskristalle auf der Windschutzscheibe. Ohne dass die Piloten das ahnen konnten, verstopften diese die unten am Flugzeug angebrachten Staudrucksonden, was zur Folge hatte, dass alle drei Geschwindigkeitsmesser auf unmöglich niedrige Werte fielen. Auch die Höhenanzeigen versagten. Das automatische System passte sich dieser Situation an und veränderte minimale Sequenzen. Es gab keine Krise für den Flieger, das Ganze war eine bedeutungslose Episode von kurzer Dauer. Hätten die beiden Piloten nichts getan, hätten sie alles richtig gemacht.

Was sich in den nächsten knapp fünf Minuten abspielte, ist ein Lehrstück unzureichender Qualifikation der Flugführer. Ein Wirrwarr von Aktivitäten, die sich teils gegenseitig aufgehoben haben; auch die Tatsache, dass dem Copiloten in dieser Situation das Aufsteigen über die 'Wolkendecke' erlaubt war, läutete das Ende des Flugs ein. Hinzu kommen die fehlerhafte Interpretation der Anzeigen, und die daraus resultierenden ebenso fehlerhaften Reaktionen. Die Maschine steigt mit steilem Anstellwinkel so auf, bis die Strömung abriss, was ein stetiges Absinken zur Folge hatte. Mit der Schnauze nach oben und Vollspeed sackte die Maschine in wenigen Minuten bis zum Aufschlagen im Wasser durch. Der Kapitän war nicht aus dem Tiefschlaf zu holen, als er endlich im Cockpit auftauchte, war schon nichts mehr zu retten.

Anstatt in einem kontrollierten Sinkflug die Strömung wieder aufzunehmen, versuchte der Copilot mit hochgezogener Nase den Flieger vor dem Absturz zu bewahren. Sämtliche automatische Ansagen des Computers wurden entweder ignoriert, oder konnten nicht ausgeführt werden. Die Sinkrate lag bei 15.000 Fuß in der Minute. Das heillose und kopflose Durcheinander führte letztlich zum Absturz. Jeder gut ausgebildete Flieger hätte die Maschine mit dem Kopf nach unten in einen kontrollierten Sinkflug gebracht, um die Maschine über dem Atlantik wieder aufzufangen.

Nochmal:  hätte die Crew garnichts gemacht, wäre der Flieger pünktlich und ohne Blessuren am nächsten Morgen in Paris gelandet.

Eine unglaubliche Geschichte, die der US-amerikanische Journalist William Langewiesche aufgezeichnet hat, und die in Gänze und viel Fachkenntnis in der aktuellen Ausgabe von Lettre International zu lesen ist. Mit viel Detailwissen und auch kritischen Anmerkungen zur Fähigkeit von Menschen, mit automatischen Kolossen im Falle einer Irritation nicht umzugehen zu können.